Golden

Wenn man an einem zuerst neuen Ort eine Weile bleibt, findet ein Übergang statt: Zuerst ist jeder Tag und jede Handlung und jede Entscheidung, die man trifft, eine neue Erfahrung, geradezu ein Akt, mit dem man sich in diesen neuen Ort einarbeitet. Alles ist wichtig, alles ist aufregend, alles hat Bedeutung. Das geht immer so weiter - und dann wird aus einem Einleben auf einmal ein Leben. Man hat plötzlich eine ganze Reihe an Handlungen, die völlig selbstverständlich sind. Man ist nicht mehr bei jeder Person, die einem im Ort begegnet, in gewisser Weise aufgeregt, weil es das erste Begegnen ist. Ja, man wird auch viel selbstverständlicher begrüßt, wenn man mit dem blauen Auto mit Berliner Kennzeichen durch die Straßen tuckert.

ReinP160000011-04.jpg

Und man fragt sich, welcher der Zeitpunkt war, an dem es von dem einen ins andere hinüberging. Und man weiß natürlich, dass es keinen Zeitpunkt gab und gibt. Leben, Sich-gewöhnen, all das ist ein Kontinuum, aufteilbar in unendlich viele Zeitstrecken. Und das ist auch egal, wichtig ist nur, dass man sich mit einem Mal vertraut fühlt - nicht mit allem, aber mit immer mehr Dingen.

ReinP160000011-11.jpg

Und gut ist die Langsamkeit hier: Es kommen immer wieder neue ungewohnte Das-erste-Mal-Dinge hinzu, aber nie zu viele auf einmal. Man kann in Ruhe und hintereinanderweg lernen.

ReinFoma000013-27.jpg

Man kann lernen, die jungen Hühner an den Flügeln zu halten und auf den Rücken zu legen, damit sie eine Spritze bekommen können. Man kann lernen, wie und nach welchen Kriterien man die guten von den schlechten Walnüssen trennt. Man kann lernen, wie man ohne Navigation von einem Ort zum anderen über Felder und durch Dörfer braust. Man lernt, mit den Leuten zu reden. Man lernt auch, Pläne zu ändern, Wünsche langfristig zu begreifen.

ReinFoma000013-04.jpg

Man lernt, wie man einen John-Deere-Rasenmäher fährt. Man lernt, wie man das Pony weicht macht und konzentriert einen Galopp beginnt. Man lernt, ein Pferd zu longieren, Bandagen um Pferdebeine zu wickeln, einem Pferd so voranzugehen, dass es ohne Strick folgt. Man lernt, Garten und Scheunentore zu streichen. Man lernt, ein elektrisches Klavier mit einem Traktor in die Kirche des Dorfes zu transportieren. Man lernt, was es bedeutet und wie gut es ist, nicht mehr in einem Mietshaus allein in einer Wohnung zu sein, sondern.

ReinP160000011-34.jpg

Berlin ist weit weg. Der Irrsinn der Stadt ist weit weg. Dennoch ist jeder Tag ausgefüllt. Und abends macht man das Tor zu und lässt die alte liebe Hündin in den Hof hinaus. Und auch sie fängt langsam an, sich auf einen zu verlassen.

ReinP160000011-24.jpg