Corona mild

Vor einem Jahr war Homeoffice-Frühling und das hieß, der Frühling war im Prinzip genauso wie der Frühling davor, denn die Sonne wärmte und ich war daher sowieso im Garten. Es gab lediglich weniger Besuch und wir fuhren noch weniger nach Berlin. Beides eigentlich keine Nachteile. So dachte man vor einem Jahr. Damals.

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Denn dieses Jahr ist ein endloses Jahr geworden, es geht weiter und immer weiter. Man plant einfach gar nichts mehr außer Lebensmittelkäufe, notwendige Termine, die Versorgung der Tiere, die To-Dos des jeweils nächsten Tages. Sich Urlaub zu nehmen, ist sinnlos geworden. Man befindet sich im Limbus, ist weder richtig da noch dort, man schwimmt so durch die Zeit und beißt sich mit aller Macht am letzten Fünkchen Hoffnung fest, dass es bald, irgendwann, wieder besser wird. Das wird aber zusehends schwerer.

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Inzwischen versuche ich einfach, nicht mehr an Dinge wie Restaurant- oder Barbesuche, Urlaube an fernen oder geliebten Orten, Besuche bei oder von lieben Menschen zu denken.

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Wir haben immer noch Homeoffice-Frühling, allerdings bei eisigen Temperaturen und schlechter Auftragslage. Doch das passt alles gut, denn inmitten dieser ganzen Situation hat es meinen Vater aus dieser Welt gerissen. Man redet gern vom friedlichen Einschlafen. Friedliches Einschlafen ist bei Nierenversagen nur mit medikamentöser Hilfe möglich, denn Körper und Seele wehren sich gegen das Sterben. Und dennoch ist es wahr, wenn der Mensch sein Sterbenmüssen akzeptiert hat. Und das hatte er.

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Als ich ihn - das letzte Mal - wieder ins Krankenhaus schicken musste und mich dann mit schlechtem Gewissen selbst quälte, weil er wieder über Stunden telefonisch unerreichbar und allein in der Notaufnahme lag, weinte ich in unserem Telefonat am nächsten Morgen. Das machte ich sonst nie bei ihm, aber ich konnte nicht mehr. Da sagte er: “Mach dir um mich keine Sorgen.”

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Seine letzten Worte zu mir waren: “Bis zum nächsten Mal.”

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Dass das Wetter alle paar Minuten zwischen Schnee und Sonne wechselt, ist wohl für eine Beerdigung gerade angemessen. Johann Sebastian Bach, Sarabande aus der Partita in d-Moll, Geige. Udo Lindenberg, Cello, Orgel. Vytautas Barkauskas, Partita, Grave und Toccata, Geige. Elvis Presley, Are you lonesome tonight?, Orgel. Weil es nicht anders geht, stoßen wir auf meinen Vater direkt am Grab an, in seiner Gegenwart, bei Sonne und bei Schnee. Und es war gut.

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Neben dem Aufziehen der eigenen Kinder, wenn man welche hat, gehört es zu den wichtigsten, schwierigsten und schlimmsten Aufgaben des Erwachsenenlebens, sich um die altgewordenen, kranken, sterbenden Eltern zu kümmern. Danach wird plötzlich ein riesiger Raum frei für anderes, doch dieser Raum ist auch eine riesige Leere.

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Das erste Corona-Jahr schenkte mir ein Pferd. Eine junge, zarte, ängstliche, widerspenstige und gleichzeitig anhängliche Stute. Ich lerne nun das Sprichwort vom Weg, der das Ziel ist, neu kennen. Am Sonntag konnte ich nach über drei Monaten das erste Mal wieder auf ihr reiten. Es ist ein guter Weg.

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Fast ein ganzes Jahr

Je länger man nicht geschrieben hat, desto schwerer wird der Neustart, denn es kommen auch immer mehr Ereignisse und Erlebnisse und Beobachtungen zusammen, die aufgeschrieben werden wollen. Irgendwann ist es so viel, dass einem klar wird, dass es nur noch mit einer Generalamnestie zu lösen sein wird. So tun, als sei nichts passiert, um mit neuen Erlebnissen anzufangen.

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Der Plan, ganz genau von meinem neuen Leben auf dem Lande zu berichten, war auf Sand gebaut. Jedenfalls offensichtlich nicht auf dem guten dunklen Bördeboden, der einen nie im Stich lässt. Ich bin nicht mehr neu hier. Ein ganzes Gartenjahr ist durch. Der nächste Bulle liegt schon seit November in der Tiefkühltruhe und der übernächste ist schon lange auf der Weide. Die kleine Katze ist immer noch zart und klein, aber erwachsen. Sie war verschwunden und wurde uns wiedergebracht. Sie zirpt immer noch durch den Hausflur, wenn sie mich ruft.

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Vieles mache ich nun nicht mehr das erste, sondern das zweite Mal. Und vieles habe ich schon viele, viele Male gemacht. Ein neues erstes Mal ist der Hund, der bei uns einzog. Nicht mehr jung ist sie, dafür sehr wuschelig, sehr grau, sehr zart besaitet und gleichzeitig doch sehr duldsam. Ich versuche, ihr Vertrauen zu gewinnen. Was gelingt. Die Grundlage dafür ist: Wir machen zusammen viele Dinge jeden Tag genau gleich. Das bedeutet, dass meine Routinen starr werden. Es bedeutet aber auch, jeden Tag 5 bis 10 Kilometer zu laufen. Nie wieder hadere ich mit der Fitness, denn draußen wartet jeden Morgen meine Trainerin.

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Und wenn sie dann doch mal mit anderen Hunden mitgaloppiert oder frei über den Feldweg saust, bin ich sehr glücklich. Plötzlich ist ein Wunsch wahr geworden: Ich bin mit meinem eigenen Hund im Stall und sie begleitet mich bei allen Arbeiten und beim Reiten.

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Vor zwei Wochen ist uns ein Hahn zugeflogen. Er war auf einmal da, im Garten bei den Hühnern. Wir wissen nicht, woher er kam oder ob er irgendwem gehört. Nach einer Stunde war es so, als sei unsere Hühnerhorde nie ohne Hahn gewesen. Caruso kam einfach, und mal sehen, wann er wieder geht.

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Mein Beet ist dieses Jahr größer. Ich habe aus dem Vorjahr gelernt und deshalb den Kohlrabi im Griff.

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Obwohl sich die Tage hier sehr gleichen, ist es doch so, dass das Wetter jeden Tag anders ist und selten, wie man es plant. Noch seltener ist es genauso wie im Vorjahr. So jedenfalls befanden es Spinat und Rübstiel. Mangold habe ich weggelassen, von der Zucchini gibt es nur zwei Pflanzen. Ich habe Angst vor ihrer Weltherrschaft. Die kommt dieses Jahr dann wahrscheinlich durch die vielen Gurken. Wenn es gelingt. Beim ersten Mal fällt der Glaube immer schwer.

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Wenn man das Jahr aus Gartensicht beschreibt, spielt Corona keine Rolle. Wenn ich nur in Haus und Garten lebte, würde es keine Rolle spielen. Es spielt aber eine Rolle, denn ich habe viel mehr Zeit. Zum Glück kann man das Geld ja auch nicht ausgeben. Obgleich der Traum von einem Pferd in meinem Können und Selbstverständnis in größer werdenden Schritten näher rückt, rückt er finanziell gesehen im gleichen Maße in die Ferne.

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Ich warte einfach. Und sitze währenddessen an meinem Schreibtisch im Garten. Der Hund liegt im Gebüsch daneben, die Katze im extra für sie aufgestellten Stuhl neben mir. Ach nein, ich sehe gerade, sie ist irgendwohin verschwunden. Ich geh mal nach ihr suchen.

Sommer

So lange nichts geschrieben. Keine Fotos entwickelt. Als sie jetzt erst vom Entwickler zurückkommen, mache ich eine Zeitreise. In den Winter, in den Frühling. Das scheint alles Jahrhunderte weit weg zu sein. Eine anderes Universum. Ein Universum, in dem die alte, sanfte Hündin noch lebt, in dem die Bäume noch graue Steine waren und in dem ich kein Katzenbaby auf dem Hof beaufsichtige.

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Das Schreiben kommt mir hier abhanden. Die Sehnsucht, die ich damit verbinde, ist meistens nicht da. Denn ich bin hier. Pflanzen werden gegossen, Hühner gefüttert, früh werden Brötchen geholt oder gebracht. Es wird Essen gekocht, Rasen gemäht, Türen gestrichen. Ich fahre zum Reitunterricht. Von mir auf dem gescheckten Pferd gibt es auch nach zehn Monaten noch kein Foto. Ich lese viel Korrektur, schreibe Rechnungen, fahre in den Urlaub. Jeden Tag erlebe ich Dinge, die ich entweder noch nie erlebt habe oder die in ihrer kleinteiligen Schönheit gleich nach dem Erleben davonfliegen.

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So wie der abendliche Radweg ins Nachbardorf, um dort einzukehren. Das goldene Licht fließt über die Felder, wir holpern unter Holunder und einer alten Leitung hindurch. Einmal sehen wir kleine Ziegen zwischen den stillgelegten Gleisen, ein andermal einen wildcampenden Wanderradfahrer, der sein Zelt aufbaut. So wie die Stille im Garten am Abend oder Morgen. Eine Stille, wie sie es nur mit Vogelgezwitscher, Insektensummen und Igelgeraschel in den Büschen geben kann. Nicht die Stille einer Wohnung, wenn man alle Fenster fest schließt. Der Moment, wenn man allein im Hof zur Nacht das riesige Tor schließt. Oder wenn man Rüben für den Bullen Leo verzieht. Oder den Braten im Ofen anbrennen lässt, weil man eben schnell noch im Garten Unkraut jäten wollte.

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Oder wenn ich das Pony von der Weide hole, ganz allein im Stall, allein mit Schwalben, Tauben und Spatzen, und in dem Duft dort zur Ruhe komme. Oder wie ich mit dem Rad die winzigkleine Katze in der Agrargenossenschaft besuchen fahre und wir sie alle suchen müssen in der Halle mit den Landgeräten, weil die Mutter sie immer wieder versteckt. Oder wie ich langsam (langsam) sicherer, ruhiger und selbstbewusster auf dem Pferd werde.

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Es gibt keine Wohnung in Berlin mehr. Es gibt Momente, in denen ich sogar Mühe habe, mich zu erinnern, dass ich eigentlich eine Berlinerin bin. Ich gieße einfach lieber mein Gemüse, geleite die Hühner spätabends in ihren Stall und zähle die Schwalbenküken.

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Frühling

Schon bald ist ein Viertel des Jahres herum und langsam sehe ich wieder das Tageslicht. Eingesponnen in einen Kokon, der nun aufbricht. Endlich. Die Verbände sind ab, der Rücken macht wieder mit. Der alte Job liegt hinter mir, der Aufbruch in die Selbstständigkeit ist erfolgt. Mein Blut braucht keine Medikamente, aus Verunsicherung wird ein Gefühl von Erleichterung und Freiheit.

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Vor wenigen Tagen habe ich das erste Mal dicke Äste in einen Holzhäcksler geschoben. Er reißt sie einem aus der Hand mit beängstigender Grobheit und Kraft und speit alles in Staub und Lärm wieder aus. Eine Höllenmaschine. Doch nach und nach lernt man, sie zu beherrschen, man weiß, wann man sich vor wirbelnden Ästen ducken muss und in welchem Winkel sie angesetzt werden müssen. Mein Cousin sortiert Feuerholz aus, mein Onkel verteilt die Späne. Ich finde noch den ganzen Tag Sägespäne an meinem Körper und in den Haaren. Feine Maschine.

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Mein Gartenexperiment ist gestartet. Ich bin da komisch, ich will alles allein machen, habe aber Angst vorm Scheitern. Ich will durchs Misslingen lernen und hoffe doch so sehr, dass irgendwas wächst. “Hier wächst alles”, sagt G., aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass aus den feinen kleinen Krümeln Etwas, die ich ins Beet einbringe, irgendetwas herauskommt. Als es dann in den Anzuchtschalen grünt, bin ich zwar erleichtert, aber gleich kommt die nächste Sorge: Wie kann dieses kleine feine Grün zu einer Frucht werden? Wie bekomme ich es heil nach draußen? Ich gehe jeden Tag zu meinen Schalen und begutachte unruhig das schwarzerdige Beet im Garten. Wachsen geht offenbar schnell und sehr langsam zugleich.

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Jahr

Das Jahr endete, wie es sollte. Wir beide grillten im Hof aufgetaute Steaks vom Bullen, aßen in der großen Küche. Saßen dann vor einem schönen kräftigen Feuer draußen auf der Bank unter Decken und tranken Wein. Der Hund umstromerte uns. Vom Hof aus sahen wir den Böllern und Raketen der anderen zu. Um eins war alles wieder still und wir gingen ins Bett.

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Es waren gute drei Monate gewesen. In denen ich genug Reitstunden nehmen konnte, um endlich das Gefühl zu bekommen, vielleicht irgendwann mal reiten zu können. In denen wir bei ausdauerndem Glühweintrinken auf verschiedenen Höfen die Menschen hier kennenlernen konnten. Auch auf unserem Hof. Ich kochte fünf Liter Gulaschsuppe, wir bestrichen hunderte von Stullen mit Schmalz, wir erfuhren gerade noch rechtzeitig, welchen Glühwein man hier kauft, und bastelten betrunken selbst welchen, als er alle wurde. Alle kamen neugierig und waren’s zufrieden. Und der Mann spielte Heiligabend in der hiesigen Kirche Orgel.

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Es waren drei Monate, in denen wir nun alle zusammen in einem Haus wohnten. Wie gut das ist, zeigt sich immer mehr. Mehr Sicherheit, gleichzeitig mehr Freiheit. Drei Monate auch, in denen ich das erste Mal der Schlachtung eines Bullen beiwohnte. Und nun weiß, was es kostet, an Arbeit, an Leben. Und dankbar darüber bin. Drei Monate, in denen ich jeden Tag wieder fasziniert bin vom Kreislauf des Hühnerhaltens: Man füttert sie und sie schenken einem perfekte Eier, jeden Tag, einfach so. Und sie sind sehr unterhaltsam und anhänglich. Gute Tiere.

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Das Jahr beginnt, wie es ursprünglich nicht sollte. Ich bin nicht mehr angestellt. Aber es ist gut, denn es bedeutet auch mehr Freiheit, physisch und psychisch.

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Das Jahr beginnt, wie es auf keinen Fall sollte. Der liebe Mann fährt mich nach einer Nacht voller Rückenschmerzen und Keine-Bewegung-machen-Könnens, Schmerzstärke zehn, in die Notaufnahme des Uni-Klinikums. Dort bin ich nun schon das zweite Mal und werde auch diesmal wieder von einer jungen, guten Ärztin behandelt, die sich Zeit nimmt. Die Tabletten erledigen jetzt die restliche Arbeit und das neue Jahr beginnt dann eben einfach erst danach.

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Golden

Wenn man an einem zuerst neuen Ort eine Weile bleibt, findet ein Übergang statt: Zuerst ist jeder Tag und jede Handlung und jede Entscheidung, die man trifft, eine neue Erfahrung, geradezu ein Akt, mit dem man sich in diesen neuen Ort einarbeitet. Alles ist wichtig, alles ist aufregend, alles hat Bedeutung. Das geht immer so weiter - und dann wird aus einem Einleben auf einmal ein Leben. Man hat plötzlich eine ganze Reihe an Handlungen, die völlig selbstverständlich sind. Man ist nicht mehr bei jeder Person, die einem im Ort begegnet, in gewisser Weise aufgeregt, weil es das erste Begegnen ist. Ja, man wird auch viel selbstverständlicher begrüßt, wenn man mit dem blauen Auto mit Berliner Kennzeichen durch die Straßen tuckert.

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Und man fragt sich, welcher der Zeitpunkt war, an dem es von dem einen ins andere hinüberging. Und man weiß natürlich, dass es keinen Zeitpunkt gab und gibt. Leben, Sich-gewöhnen, all das ist ein Kontinuum, aufteilbar in unendlich viele Zeitstrecken. Und das ist auch egal, wichtig ist nur, dass man sich mit einem Mal vertraut fühlt - nicht mit allem, aber mit immer mehr Dingen.

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Und gut ist die Langsamkeit hier: Es kommen immer wieder neue ungewohnte Das-erste-Mal-Dinge hinzu, aber nie zu viele auf einmal. Man kann in Ruhe und hintereinanderweg lernen.

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Man kann lernen, die jungen Hühner an den Flügeln zu halten und auf den Rücken zu legen, damit sie eine Spritze bekommen können. Man kann lernen, wie und nach welchen Kriterien man die guten von den schlechten Walnüssen trennt. Man kann lernen, wie man ohne Navigation von einem Ort zum anderen über Felder und durch Dörfer braust. Man lernt, mit den Leuten zu reden. Man lernt auch, Pläne zu ändern, Wünsche langfristig zu begreifen.

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Man lernt, wie man einen John-Deere-Rasenmäher fährt. Man lernt, wie man das Pony weicht macht und konzentriert einen Galopp beginnt. Man lernt, ein Pferd zu longieren, Bandagen um Pferdebeine zu wickeln, einem Pferd so voranzugehen, dass es ohne Strick folgt. Man lernt, Garten und Scheunentore zu streichen. Man lernt, ein elektrisches Klavier mit einem Traktor in die Kirche des Dorfes zu transportieren. Man lernt, was es bedeutet und wie gut es ist, nicht mehr in einem Mietshaus allein in einer Wohnung zu sein, sondern.

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Berlin ist weit weg. Der Irrsinn der Stadt ist weit weg. Dennoch ist jeder Tag ausgefüllt. Und abends macht man das Tor zu und lässt die alte liebe Hündin in den Hof hinaus. Und auch sie fängt langsam an, sich auf einen zu verlassen.

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Neu

Eine Lampe ging zu Bruch. Die Treppe war gesprenkelt mit roten Rosenblättern. Auf die Kisten tropfte Schweiß. Zwar keine Tränen, aber es wurde ein langer, langer Tag. Am Ende schlief man in einem alten Haus in einem neuen Land.

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Zur Ummeldung gingen wir einfach ins Rathaus und traten nach dem Klopfen ein. Bei strahlendem Sonnenschein wurden wir neue Bürger.

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Nach dem Sturm fuhr ich durch Felder zum Wochenendeinkauf. Die Sonne floss golden über die Stoppeln gegen einen dunkelgrauen Himmel. Auf einem Pfosten am Straßenrand saß ein Bussard, der sich beim Näherkommen des Autos ins Sonnenlicht hinein erhob.

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Ich begann wieder Freude dabei zu empfinden, am Steuer zu sitzen. Ich begann wieder Freude zu empfinden, wenn ich morgens die Augen aufschlug und ein neuer Tag vor mir lag. Es waren zarte Gefühle, wie ein Schmetterlingsflattern.

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Die Ruhe tat schon nach drei Nächten ihre Wirkung. Weniger Gedankenkreisel, mehr gedankenfreies Vor-sich-hin-Wurschteln, Spazierengehen, Fotos machen. Ich hatte eine erste Reitstunde am Ende der Welt in einem Dorf, das in einer Sackgasse endete. Ich kletterte von Strohballen auf den Westernsattel und galoppierte um die Mittelpfosten der improvisierten Halle herum.

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Im Garten leuchteten Rosen, Äpfel und Walnüsse in der Sonne. Es wurde kalt. Wir saßen vor unserem kleinen Ofen in der Wärme.

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Neue Formen des Zusammenlebens. In jeder Hinsicht.

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Meine erste Kartoffelernte.

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Bald

Es sind nur noch 1,5 Wochen bis zum Umzug. Endlich.

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Es wurde ein Öfchen gebaut. Es wurde gestrichen. Es gibt nun VDSL, eine Klingel mehr, Namensschilder am Briefkasten.

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Unsere Erschöpfung steigt. Ich kämpfe mich durch lange Tage mit Arbeit und Abschiedsverabredungen. Ich falle abends ins Bett in der inzwischen chaotischen Wohnung und kann dann doch nicht einschlafen. Es folgt ein weiterer müder Tag. Zum Durchhalten stelle ich mir unser Bett unterm Dach vor und die Stille und Kühle der dortigen Nacht.

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Berlin treibt uns förmlich fort: Es gibt keine Bar Babette mehr, dafür Labyrinthe von Baustellen und Hindernisparcours aus Menschen an jeder Ecke, jeder Station, vor der Haustür, begleitet von einem Abschiedschor aus Finanzamt, Polizei und Feuerwehrsirenen.

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In der schon tiefen Dämmerung sah ich am ersten Abend eine große Fledermaus die Stallwand entlangflattern, am zweiten Abend flog ein Kauz über den Hof und ich zählte zwei Sternschnuppen, am dritten trugen wir im Dunkeln ein fehlendes Hühnchen in den Stall.

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Angekommen

Wie ich wenige Tage vorher in Berlin noch dachte, wenn so viel im Vorhinein schief läuft, dann muss die Feier gut werden.

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Die Vorbereitung als Puzzle-Spiel, bei dem mit jedem verbauten Teil drei neue aus dem Nichts erscheinen, die auch noch irgendwo hingepackt werden müssen. Am Ende kommen Essen und Getränke von fünf verschiedenen Lieferanten. Dazu noch viele, viele Einkäufe in Supermärkten. Bei jedem Durchzählen werde ich unsicherer, ob die kalkulierten Mengen reichen können. Ich laufe drei Tage lang auf Adrenalin. Am Abend vor der Feier bleiben die ersten Gäste auf dem Weg zu uns auf der Autobahn liegen. Am Tag der Feier brennt ein Feld des Cousins ab, während die Schwiegermutter bahnbedingt in Hannover feststeckt. Ich rede gefühlt zwölf Stunden durchgängig, esse kaum, trinke wenig.

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Ich bin glücklich.

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Wie wir, Familie und Freunde, am Abend vorher schon zu zwanzigst bis spätabends in der großen Küche stehen, Bier trinken und reden. Nach einem anstrengenden und guten Tag der Vorbereitung, der Anreisen, des Kaffeetrinkens - alles bei strahlender Sonne.

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Wie sie alle nach und nach in den Hof geschlendert kommen: fast 90 Menschen, darunter kleine Kinder, die ich das erste Mal sehe, Freundinnen, die ich sehr lange nicht sah, neue Verwandtschaft und alte Freunde, die ich noch nie sah. Dazwischen meine vielen Cousins und Cousinen, meine geliebte große Familie, meine liebsten Freundinnen und Freunde. Ein Potpourri an Menschen aus drei Generationen, die Bänke rücken, Getränke hinstellen, Hüpfburg hüpfen, Zelte aufbauen, sich kennenlernen, später essen, Cocktails trinken, tanzen; die zufrieden und ausgelassen sind und dem guten und beschützenden Karma des Ortes verfallen.

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Alle zusammen.

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Die besten Geister passen auf, dass alles klappt.

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Das letzte Bier und der letzte Old Fashioned. Sittin' on the dock of the bay. Die Jugend macht das Licht aus.

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Am nächsten Nachmittag schlafen wir friedlich im Garten und grillen abends das übrige Fleisch weg.

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Alles, wie es sein sollte. Die richtigen Entscheidungen getroffen. Im Kleinen wie im Großen. Und zum Richtigen Ja gesagt.

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Aussetzen

Nach der Rückkehr aus einem portugiesischen Pferdetraum ins staubtrockene, knallsonnige Berlin erfasst mich tiefe, unglaubliche Müdigkeit. Meine alte, doofe, empfindliche Seele, sage ich mir und mache weiter. Am gewittrigen Donnerstag schaffe ich es zwar noch die Treppe zur U-Bahn hinunter, aber nach der Fahrt kaum noch hinauf. Vielleicht 30 Stufen, dafür ein Keuchen, wie ich es noch nie erlebt habe, der Versuch, Luft zu bekommen, kurze Schwärze im Kopf. Dann geht es wieder. Ich mache weiter. Im Konzertsaal wird mir schwindelig. Ich mache noch drei Tage weiter.

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Dass ich kaum schneller als Museumsschrittgeschwindigkeit laufen kann, ohne dass mir die Puste ausgeht, das kann doch nicht von der alten Seele kommen? Beim Einschlafen am Samstag überkommt mich der vollkommen nüchtern-sachliche Gedanke, dass ich wohl am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen werde.

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Am Sonntag wird mein Mann am Telefon ernst. Dass er versucht, das Wunder zu vollbringen, übers Telefon eine schon halb panische Person dazu zu bringen, sich in die Notaufnahme zu bewegen, ohne dabei diese Person vollkommen panisch werden zu lassen, das geht mir erst später auf.

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Auch, dass er mir gerade das Leben rettet.

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Ich bin in dem Moment auf zwei Gedanken reduziert: Taxi rufen, Bundeswehrkrankenhaus. Im Taxi erfahre ich, dass alles wegen eines Radrennens abgesperrt ist und damit auch der Weg zum Krankenhaus. Der Taxifahrer redet laut und viel und hört nicht zu. Jetzt nur noch ein Gedanke: Bundeswehrkrankenhaus, Bundeswehrkrankenhaus, Bundeswehrkrankenhaus. Ich lasse mich an der U-Bahn absetzen. Der Weg von der Schwartzkopffstraße zum Eingang der Notaufnahme verhält sich wie das real gewordene Paradoxon von Achill und der Schildkröte. Mein Gesichtsfeld verengt sich auf den jeweils als nächstes zu setzenden Schritt. Fünf Meter vor dem Eingang ist mir nicht klar, wie ich das noch schaffen soll. Dann Anmeldung. Ich warte keine fünf Minuten.

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Auffälligkeiten im EKG, erhöhter Thrombosewert im Blut, vier aufgeregte Ärzte um mein Bett, Schock, Tränen, CT, Lungenarterienembolie in beiden Lungenflügeln, Tränen, mein mich tröstender Mann, viele mich beruhigende Ärzte, eine Schwester wischt mir die Tränen ab. Während rechts durch den peripheren Venenkatheter Heparin in mich hinein läuft, versucht sich der Anästhesist am linken Arm an einem Arterienkatheter, der dann aber falsch sitzt. Katheter wieder raus, Druckverband, noch mehr Tränen, Überwachungsstation, dort weitere Katheterversuche. Es folgen Nächte, die aus Piepgeräuschen, Sauerstoffblubbern, Schläuchen, Blutabnehmen bestehen, und Tage, an denen die freundlichsten Schwestern und Pfleger, die ich je traf, mich abzulenken und aufzuheitern versuchen. Und viele Untersuchungen.

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Nach der Übersiedlung auf die normale Station träume ich nachts, dass mir Schläuche aus den Armen wachsen, die ich hilflos der Nachtschwester entgegenstrecke. Es gelingt mir nicht zu reden, um zu sagen, was ich will. Ich wache vom Licht auf, was beim nächtlichen Kontrollgang durch die Tür fällt. Bei jeder Verabschiedung von Ärzten und Schwestern bei der Entlassung steigen mir Tränen der Dankbarkeit über die Rettung in die Augen.

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Eine Zäsur, die ein Vorher und ein Nachher hat. Ein Einschnitt, den der Körper einfach so hinnimmt, indem er, im Moment noch etwas ruckelig, einfach weitermacht; den das Denken aber nicht verdaut. Was tun damit, dass es so knapp war? Wohin mit den neuen Farben, dem verrutschten Bewertungssystem, der neuen alten Welt?

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