Zwischenspiel

Wie kommt es, dass das Leben - im Sinne der verbrachten Lebenszeit - sich dann mit einem Mal schon so lang anfühlen kann und Erinnerungen an die Schulzeit oder die anfängliche Studienzeit so weit weg, fast als gehörten sie zu einem anderen Menschen, aber nicht zu mir? Die rein auf Erden verbrachten Jahre können es nicht sein, denn noch bis vor wenigen Jahren oder sogar Monaten ging es mir keineswegs so, dass sich die Rückschau wie eine ewig lange Reise anfühlt. Das Gefühl des Älterwerdens muss demnach an etwas anderem hängen und mich beschleicht der Gedanke, dass es die einzelnen speziellen Jahre im Leben sind, in denen sich Brüche ereignen, sich alles zusammenballt und entweder ein Zerstören, ein Zusammenbruch stattfindet oder das große Wunder eines Entstehens passiert. Denn es gibt diese Jahre, die einschneidender sind als andere. Man kann sie so zählen, wie man früher mit Strichen oder Kerben am Türrahmen das Größerwerden gezählt hat. Diese Jahre sind Narben im Leben. Und erst eine gewisse Anzahl an solchen Narben bewirkt das Gefühl des Langlebens. Und mit manchen Menschen verbindet einen eine Synchronizität der Jahre oder auch nur eines Jahres. Das Jahr, in dem das Leben einen gewaltigen Sprung machte oder abstürzte.

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Und während ich durch Dunkelheit und Regen zu meinem Vater gehe, frage ich mich, wie ich mich dann wohl erst in 20 oder 30 Jahren fühle. Ab einem bestimmten Punkt vor dem Ende seines Lebens - dieser Punkt kann lange vor dem Tod oder kurz davor sein - beginnt ein Mensch, weniger zu werden. Aber in welcher Art er weniger wird, das ist bei jedem anders. Meine Mutter wurde lediglich körperlich weniger: Gewicht, Sprache, Bewegung. Aber in ihrer Art, in ihrem Charakter blieb sie bis zum Schluss sie selbst. Mein Vater jedoch wurde und wird immer weniger er selbst.