Aussetzen

Nach der Rückkehr aus einem portugiesischen Pferdetraum ins staubtrockene, knallsonnige Berlin erfasst mich tiefe, unglaubliche Müdigkeit. Meine alte, doofe, empfindliche Seele, sage ich mir und mache weiter. Am gewittrigen Donnerstag schaffe ich es zwar noch die Treppe zur U-Bahn hinunter, aber nach der Fahrt kaum noch hinauf. Vielleicht 30 Stufen, dafür ein Keuchen, wie ich es noch nie erlebt habe, der Versuch, Luft zu bekommen, kurze Schwärze im Kopf. Dann geht es wieder. Ich mache weiter. Im Konzertsaal wird mir schwindelig. Ich mache noch drei Tage weiter.

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Dass ich kaum schneller als Museumsschrittgeschwindigkeit laufen kann, ohne dass mir die Puste ausgeht, das kann doch nicht von der alten Seele kommen? Beim Einschlafen am Samstag überkommt mich der vollkommen nüchtern-sachliche Gedanke, dass ich wohl am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen werde.

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Am Sonntag wird mein Mann am Telefon ernst. Dass er versucht, das Wunder zu vollbringen, übers Telefon eine schon halb panische Person dazu zu bringen, sich in die Notaufnahme zu bewegen, ohne dabei diese Person vollkommen panisch werden zu lassen, das geht mir erst später auf.

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Auch, dass er mir gerade das Leben rettet.

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Ich bin in dem Moment auf zwei Gedanken reduziert: Taxi rufen, Bundeswehrkrankenhaus. Im Taxi erfahre ich, dass alles wegen eines Radrennens abgesperrt ist und damit auch der Weg zum Krankenhaus. Der Taxifahrer redet laut und viel und hört nicht zu. Jetzt nur noch ein Gedanke: Bundeswehrkrankenhaus, Bundeswehrkrankenhaus, Bundeswehrkrankenhaus. Ich lasse mich an der U-Bahn absetzen. Der Weg von der Schwartzkopffstraße zum Eingang der Notaufnahme verhält sich wie das real gewordene Paradoxon von Achill und der Schildkröte. Mein Gesichtsfeld verengt sich auf den jeweils als nächstes zu setzenden Schritt. Fünf Meter vor dem Eingang ist mir nicht klar, wie ich das noch schaffen soll. Dann Anmeldung. Ich warte keine fünf Minuten.

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Auffälligkeiten im EKG, erhöhter Thrombosewert im Blut, vier aufgeregte Ärzte um mein Bett, Schock, Tränen, CT, Lungenarterienembolie in beiden Lungenflügeln, Tränen, mein mich tröstender Mann, viele mich beruhigende Ärzte, eine Schwester wischt mir die Tränen ab. Während rechts durch den peripheren Venenkatheter Heparin in mich hinein läuft, versucht sich der Anästhesist am linken Arm an einem Arterienkatheter, der dann aber falsch sitzt. Katheter wieder raus, Druckverband, noch mehr Tränen, Überwachungsstation, dort weitere Katheterversuche. Es folgen Nächte, die aus Piepgeräuschen, Sauerstoffblubbern, Schläuchen, Blutabnehmen bestehen, und Tage, an denen die freundlichsten Schwestern und Pfleger, die ich je traf, mich abzulenken und aufzuheitern versuchen. Und viele Untersuchungen.

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Nach der Übersiedlung auf die normale Station träume ich nachts, dass mir Schläuche aus den Armen wachsen, die ich hilflos der Nachtschwester entgegenstrecke. Es gelingt mir nicht zu reden, um zu sagen, was ich will. Ich wache vom Licht auf, was beim nächtlichen Kontrollgang durch die Tür fällt. Bei jeder Verabschiedung von Ärzten und Schwestern bei der Entlassung steigen mir Tränen der Dankbarkeit über die Rettung in die Augen.

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Eine Zäsur, die ein Vorher und ein Nachher hat. Ein Einschnitt, den der Körper einfach so hinnimmt, indem er, im Moment noch etwas ruckelig, einfach weitermacht; den das Denken aber nicht verdaut. Was tun damit, dass es so knapp war? Wohin mit den neuen Farben, dem verrutschten Bewertungssystem, der neuen alten Welt?

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