Advent

Zum ersten Mal allein in dem großen Haus, auf dem Grundstück. Wir halten auf dem Weg dorthin in der Dorfmitte an. Die Schreie von herumalbernden Teenagern verstärken die Stille nur noch. Später auf einem Spaziergang sind wir selbst die einzigen, die die Ruhe der Felder stören. Das Rascheln von Jacken und das Aufstapfen von Schuhen bedeuten an diesem Ort Krach. Man ist wirklich da. In Berlin auf der Straße verschwindet man in den Geräuschen, wenn man nicht laut ruft.

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Möhren reiben, gekochte Kartoffeln reiben, eine Schale Legemehl dazu. "Niemand sonst füttert Hühner so wie wir. Aber hier wurden die Hühner schon immer so und nicht anders gefüttert", sagt mein Cousin. Luxus-Hühner, die sich, auch wenn sie etwas pikiert gucken, streicheln lassen. Luxus-Hühner, die mich aufgebracht angackern, als am Morgen Schnee im Garten liegt. Lieber bleiben sie drin. 12 Eier an einem Wochenende.

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Ein Pellet-Ofen in der Küche, ein Kamin im Wohnzimmer: Ständig darf ich Holz nachlegen, Holz holen, Holz nachlegen. Was für ein großes Glück. Auf dem Küchenofen brodelt später ein Gulasch vom diesjährigen Bullen, der nun in Portionen geschnitten in der randvollen Tiefkühltruhe wohnt und mit jedem Mahl geehrt wird. Der Kreislauf hier aus Tieren, Menschen und Garten gestattet es außerdem, dass nichts umkommt, ohne dass man selbst unter Zwang stünde, immer alles aufessen oder sich anderweitig begrenzen zu müssen. Eine Art von Perfektion, die mich mit demselben Hochgefühl erfüllt wie ein guter philosophischer Beweis.

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Wir gehen im Dorf Glühwein trinken. Augenwinkel überlegen, wer wir wohl sind. Schmalzgebäck auf Sachsen-Anhaltinisch.

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Unser neues Wohnzimmer unterm Dach misst 9 x 5 Quadratmeter. Zuerst Vollmond, dann Schnee.

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Was dieser Ort, die anders gearteten Tätigkeiten, der stete Wechsel zwischen draußen und drinnen mit mir tun, merke ich, als mir nach vielen Stunden Facebook wieder einfällt. Der Gedanke, mal nachzusehen, kommt und geht auch schon wieder, in einer einzigen Bewegung. Die äußere Ruhe wird zur inneren. Und das, was man jetzt gerade tut, reicht einem hin.

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Der alte Hund kann zwar nicht mehr so springen, aber die den Hunden eigene überschäumende Freude zeigt sich trotzdem in jeder Bewegung, im freudigen Winseln, im dankbaren Blick. Es ist schwer, in Gegenwart eines Hundes, der einem wohlgesinnt ist, melancholisch zu sein. Ja, wir gehen spazieren. Und so gehen wir durch weiße Schneestille, die nun noch tiefgreifender ist als am Vortag. Ich mit Kapuze im Gesicht gegen den Schneefall folgen wir einer anderen Mensch-Hund-Spur. Sonst nichts. Die Fotos werden ganz ohne Filter schwarzweiß. Sogar der Raubvogel, der in Zeitlupe von einem nahen Baum abhebt und das Wunder seines langsamen Fluges vorführt, ist Schwarzweiß. Der alte Hund und ich, wir schauen uns einen Moment an, dann geht jeder weiter in seiner Spur und seiner eigenen Welt.

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Anfang

Das innere Leben eines Menschen, das Reifen und Wachsen von Gefühlen oder Entschlüssen, vollzieht sich ganz ähnlich dem äußeren oder organischen Verändern. Es geht langsam und allmählich ab, doch dann kommt der Punkt, da bemerkt man die neue Falte oder das graue Haar ganz plötzlich, als ob sie über Nacht gekommen wären. Im positiven Sinne der inneren Entscheidungsfindung gelangt man nach einem langen, fast unbemerkten Reifeprozess zum "kairós", dem Zeitpunkt, an dem es soweit ist.

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Und so kam es, dass wir im Sommer mit meinem eher wortkargen Onkel im Kartoffelfeld auf schwerer, sehr dunkler Erde standen, er den Spaten mit einem Ruck in den Boden stieß und dabei sagte: "Dann packen wir es an!".

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Gestern lagen die Schlüssel zum Haus, wo wir unterm Dach eine geräumige und gemütliche Wohnung haben werden, in meinem Berliner Briefkasten. In Gedanken habe ich alles schon eingerichtet und dreimal umgeräumt. Auch der kleine gußeiserne Ofen, den es noch gar nicht gibt, ist in meinem innerlichen Leben schon da. In Wirklichkeit schon da sind allerdings einige Hektar Garten und Hof, alles gepflegt und mit viel bisher ungenutztem Platz, an dem ab nächstes Jahr dann unsere Ideen sprießen können. Zwei Städter, die noch nie einen Zelturlaub gemacht haben.

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Wikipedia:

"Ein Vierseithof ist die Bezeichnung für eine Hofform, bei der der landwirtschaftliche Wirtschaftshof von allen vier Seiten von Gebäuden umschlossen ist, in der Regel also vom Wohnhaus, dem (regional unterschiedlich bezeichneten) Stadel oder der Scheune, dem Getreidekasten, Kornhaus, Kornspeicher oder Getreidespeicher und dem Stall."

"In der Magdeburger Börde überwiegen verputzte Ziegelbauten, die nicht selten und für das ehemalige Preußen typisch mit klassizistischen Stuckverzierungen, wie man sie sonst von Stadthäusern des 19. Jahrhunderts kennt, versehen sind. Die Nebengebäude haben zumeist unverputztes Ziegelmauerwerk, Fachwerk oder Holzlattung."

Denkmalschutz.

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Es geht nicht darum, den Alltag hinter sich zu lassen. Alltag ist nichts Schlimmes, Alltag ist das, was einen durch den Großteil des Jahres bringt, einen gerade rückt, wenn Ereignisse einen ins Strudeln kommen lassen. Er bringt Stabilität. Wenn man nach einem herrlichen, rauschhaften Abend am nächsten Morgen in ein schwarzes Loch zu fallen droht, ist Alltag das, was einen auffängt. Er sagt: einfach weitermachen. Nein, es geht nicht darum, keinen Alltag mehr zu haben, sondern einen ganz neuen anderen Alltag zu beginnen.

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